IM AUSTAUSCH MIT EXPERTEN: “MALFORMATION HWS”

ECVM beim Pferd – Phantom oder grausame Wirklichkeit?

Enne war Liebe auf den ersten Blick, ein Herzenspferd“, sagt ihre Besitzerin Mirja Constien. Fünfjährig hat die junge Mutter die braune Stute gekauft. Französischer Vater, Mutter Holsteinerin besten Geblüts. Enne sei rittig gewesen, noch unbemuskelt, etwas kraftlos, erinnert sich ihre Besitzerin. Vor allem aber brav und artig – das optimale Freizeitpferd, das sie sein sollte. Bei der Ankaufsuntersuchung taten sich keine Probleme auf. Die Halswirbelsäule wurde damals nicht geröntgt.

Eineinhalb Jahre ging alles gut, ein Bereiter half. Im Laufe der Zeit „stützte sie sich immer mehr aufs Gebiss, ihr fester Muskeltonus fiel auf“, sagt Mirja Constien. Dann lahmte die Stute vorne rechts und hinten links. Der Beginn einer Odyssee. Ein Spezialist röntgte die Halswirbel: Ein Facettengelenk war vergrößert. Der Tierarzt spritzte dieses mit einem Kortisonpräparat. Enne wurde wieder fit. Doch schon bald wurde sie unter dem Sattel wieder „nörgelig“. Immer stärker drückte sie auf die Hand, hinzu kam hektisches Kauen. „Sie wurde dann richtig stark unterm Reiter, dabei war sie brav, aber übersensibel beim Reiten.“ Schließlich wurde der Muskeltonus immer höher, das Pferd immer fester. Galopp wurde zum Wagnis, schwer zu kontrollieren. Wieder wurde die Halswirbelsäule behandelt, wieder zeigte sich das vergrößerte Facettengelenk entzündet. „Sie hatte wirklich Schmerzen, selbst unter Sedierung konnte sie den Hals nur S-förmig halten.“ Auch nach dieser Behandlung ging es Enne deutlich besser. Dann war sie wieder lahm, Fesselträger­reizung vorne, drei Monate Pause, dann antrainieren.

ECVM beim Pferd: Malformation von C6 und C7

Doch Ennes Besitzerin fühlte: Da muss mehr sein, als nur ein entzündetes Facettengelenk und eine Reizung des Fesselträgers. Zumal mittlerweile Headshaking auftrat, die Stute hinten manchmal wegrutschte und auch das plötzliche Losrennen und die verspannte Muskulatur nicht besser wurden. „Mein Bauchgefühl sagte mir, vielleicht sind die Zähne nicht OK.“ Bei Spezialistin Dr. Katharina Ros bekam sie kurzfristig einen Termin. Es stellte sich heraus: Enne hatte einen Überbiss, der letzte Backenzahn hatte sich schon in den Kiefer gebohrt. Die Stute kaute nur noch links, eine sogenannte Zwangsokklusion war entstanden. Die Kauflächen trafen nicht mehr symmetrisch aufeinander. Das ist normalerweise die Folge von Schmerzvermeidung wegen einer Zahn­erkrankung. Die Tierärztin hatte aber noch einen anderen Verdacht angesichts des Bockhufs vorne rechts und einem links deutlich weiter herausragenden Brustkorb. „Darf ich mal anders röntgen?“ Mirja Constien stimmte zu.

„Wusste ich doch“, so der erste Satz von Dr. Katharina Ros beim Betrachten des Röntgenbildes. „Dieses Pferd hat die Malformation von C6 und C7. So können wir uns erklären, wie die Zwangsokklusion entstanden ist. Die gute Nachricht: Es ist kein Zahn, der den Schmerz verursacht hat.“ Durch die Korrektur der Kauflächenwinkel kann man die Halswirbelsäule entlasten, denn eine optimale Okklusion (das Aufeinandertreffen der Zähne) stabilisiert die Halswirbelsäule, wie auch beim Menschen. Dr. Ros, die im engen Austausch mit Physiotherapeut Stefan Stammer steht, gab Tipps für Übungen, die den Brustkorb anheben und Enne ermöglichen, sich besser zu tragen und damit auch stabilisieren zu können. Die Tierärztin kennt die Handgriffe, nicht nur beruflich, sondern auch privat. Sie selbst hat ein Springpferd, das einst große Begehrlichkeiten weckte, aber plötzlich zum Schatten seiner selbst wurde. Der Wallach stolperte, verlor die Füße, war phasenweise ataktisch und konnte sich an manchen Tagen beim Transport kaum stabilisieren. Auch ihn röntgte die Tierärztin und auch hier stellte sich heraus: Die Halswirbelsäule war deformiert. „Es gab Momente, da dachte ich, ich müsste ihn erlösen“, so Dr. Ros. Mit den Techniken von Stammer und Injektionen in die Halswirbelsäule ist der Wallach aktuell stabil. Das Tückische ist aber: Bei ECVM-Pferden kann man schlecht prognostizieren, wie lange dieser Zustand so bleibt.

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